Experten-Meinung
Wiederbelebung könnte im Jahr 10.000 Menschen mehr retten

14.06.2021 | Stand 21.06.2021, 20:42 Uhr

Jens Kalaene/dpa-Zentralbild/dpa

Jedes Jahr sterben in Deutschland Zehntausende Menschen nach plötzlichem Herzstillstand. Gefährdet sind nicht nur Ältere. Ein Experte ist sich sicher: Tausende Menschen könnten gerettet werden.

Nach dem Zusammenbruch des dänischen Fußballspielers Christian Eriksen am Samstag beim EM-Vorrundenspiel gegen Finnland sitzt der Schock bei vielen tief. Der Däne erlitt einen Herzstillstand, wurde reanimiert und ist nun laut Experten in stabilem Zustand. Doch viele Menschen überleben einen Herzstillstand nicht.

Bernd Böttiger, Direktor der Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin des Universitätsklinikums Kölns, spricht von mindestens 70.000 Menschen, die jedes Jahr in Deutschland an plötzlichem Herzversagen sterben – vermutlich seien es aber noch deutlich mehr. Als Todesursache sei «der plötzliche Herz-Kreislaufstillstand fast so häufig wie alle Krebserkrankungen zusammen», sagte Böttiger der Deutschen Presse-Agentur. Er ist sicher: Wüssten alle Menschen, wie Wiederbelebung funktioniert, «könnten wir jedes Jahr zusätzlich 10.000 Menschenleben bei uns retten».

Im Durchschnitt, so der Experte, seien vom plötzlichen Herzstillstand betroffene Menschen etwa Mitte 60, rund zwei Drittel von ihnen seien Männer. Hauptursache können demnach ein Herzinfarkt oder schwere Herzrhythmusstörungen sein. Seltener seien Entzündungen des Herzmuskels oder der Herzkranzgefäße oder angeborene Anomalien.

Mit Blick auf den erst 29 Jahre alten Eriksen sagt Böttiger: «Bei jüngeren, gesunden Menschen sind all diese Dinge sehr, sehr selten, aber nicht ausgeschlossen.» Bei Sportlern, die einen Herz-Kreislaufstillstand erlitten, könnten Entzündungen ausschlaggebend sein. Möglicherweise könne eine Grippe oder ähnliche Erkrankung unbemerkt auf das Herz schlagen. Der Herzstillstand könne die Menschen dann aus heiterem Himmel treffen – «selbst wenn man noch so aktiv und gut in ärztlicher Behandlung ist», mahnt Böttiger.

Philipp Sommer, Sprecher der Arbeitsgruppe Rhythmologie der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK), verweist darauf, dass besonders bei Leistungssportlern auch sogenannte Ionenkanalerkrankungen als Auslöser denkbar seien. Dadurch, dass Leistungssportler normalerweise regelmäßige medizinische Checks absolvierten und kontinuierlich sportliche Höchstleistungen erbrächten, sei ein dysfunktionales Herz bei ihnen unwahrscheinlich. Bei den vererbbaren Ionenkanalerkrankungen sei das Herz «strukturell völlig in Ordnung», erklärt Sommer. Es handele sich letztlich um vererbbare Erregungsstörungen der Muskulatur oder des Nervensystems, die in normalen medizinischen Checks nicht auffielen.

Doch was ist zu tun, wenn das Herz nicht mehr schlägt? Im Ernstfall zähle jede Sekunde, betont Böttiger. Schließlich werde dann kein Blut mehr durch den Körper gepumpt, das die Organe mit Sauerstoff versorgt. Am sensibelsten reagiere das Gehirn auf Sauerstoffmangel. «Ohne Sauerstoff stirbt das Gehirn nach drei bis fünf Minuten.» Und so schnell sei meist der Notarzt nicht da.

Wenn man bei einem Menschen einen plötzlichen Herzstillstand erlebe, seien drei Schritte entscheidend: «prüfen, rufen, drücken». Zunächst müsse geprüft werden, ob die hilfsbedürftige Person bewusstlos sei und nicht oder nicht normal atme. Dann gelte es, Hilfe zu rufen – am besten über den Notruf 112. Danach könne eine schnelle, effektive Herzdruckmassage, die jeder beherrschen solle, Leben retten, sagt der Experte. Je später die beginne, desto geringer die Überlebenschancen.

Wichtig sei, die Herzdruckmassage möglichst ununterbrochen durchzuführen, um von außen die Pumpfunktion des Herzens aufrecht zu erhalten, bis der Rettungsdienst eintreffe, erklärt Böttiger. Mit beiden Händen müsse man in der Mitte des Brustkorbs fünf bis sechs Zentimeter tief drücken – 100 bis 120 Mal in der Minute. Orientierung könne der Takt vieler bekannter Lieder geben – etwa «Stayin` alive» von den Bee Gees oder «Atemlos» von Helene Fischer.

Wenn mehrere Menschen vor Ort Erste Hilfe leisten könnten, sei es sinnvoll, sich abzuwechseln. Wenn noch eine Person übrig sei, könne die sich nach einem Defibrillator umsehen. Böttiger warnt aber ausdrücklich davor, diesen vor der Herzdruckmassage zu suchen. «Prüfen, rufen, drücken ist die Pflicht, ein Defibrillator die Kür.» Im Ernstfall warnt Böttiger auch vor Zurückhaltung aus Angst, den Menschen zu verletzen. «Ich habe noch nie erlebt, dass jemand zu stark gedrückt hat. Wichtig ist: richtig fest drücken.»

In Deutschland sieht Böttiger, der auch Vorstandsvorsitzender des Deutschen Rates für Wiederbelebung ist, deutlichen Nachholbedarf bei der Laien-Wiederbelebung. Nur in etwa 40 Prozent der Fälle führten Passanten als Ersthelfer die lebensrettende Herzdruckmassage aus. Länder wie Dänemark seien hier viel weiter. «Genauso wie jeder Fahrrad fahren kann oder fast jeder schwimmen kann, sollte auch jeder wiederbeleben können.»

Der Erste-Hilfe-Kurs für den Führerschein komme viel zu spät – vielmehr brauche es ab der siebten Klasse mindestens zwei Stunden pro Schuljahr, in denen Kinder und Jugendliche Wiederbelebung lernten, fordert Böttiger.